Inge Auerbach (Marburg/Lahn). Konstantin Ju. Erusalimskij Na službe korolja i Reči Pospolitoj [Im Dienste des Königs und der Rzeczpospolita] // JGO 68, 2020/3–4, 598–600

Inge Auerbach (Marburg/Lahn). Konstantin Ju. Erusalimskij Na službe korolja i Reči Pospolitoj [Im Dienste des Königs und der Rzeczpospolita] // JGO 68, 2020/3–4, 598–600

Vorgelegt wurde ein großes Buch in jeder Hinsicht, beginnend mit dem Format in DIN A4 und endend mit dem Inhalt, der Frucht jahrelanger Archivund Bibliotheksstudien des Verfassers, die nicht durch Zulassungsbeschränkungen zum Quellenmaterial limitiert wurden. Die vorgelegte Monographie sollte daher, wenn man eines der von Erusalimskij zu früheren Zeitpunkten abgehandelten Themen aufgreifen will, auf jeden Fall zu Rate gezogen werden, denn der Verfasser korrigiert regelmäßig seine eigenen älteren Hypothesen.


Angelegt ist der Band als Teil 1 einer dreibändigen Arbeit zur russischen Emigration des 16. und 17. Jahrhunderts, und er befasst sich nur mit den bereits in Moscovien prominenten Personen: mit Semen Bel’skij, Ivan Ljackij, Ivan Gubka Šujskij, Ivan Fedorov, Vladimir Zabolockij, Timofej Teterin, den Brüdern Sarychoziny, Davyd Bel’skij und Michail Golovin und schließlich mit Andrej Michajlovič Kurbskij.


Da die Arbeit alle verfügbaren Nachrichten über diese Emigranten, ihre Nachkommen und Dienerschaft vorzustellen sucht, ergeben sich zudem generelle Einsichten in die Sozialund Verfassungsgeschichte des Großfürstentums Litauen. Dienstverweigerung dem Fremden gegenüber haben die Untertanen auf den durch den Großfürsten von Litauen an die Emigranten vergebenen Gütern offensichtlich mehr als einmal geübt, wenn die Bauern nicht einfach wegliefen (S. 99, 219, 315). Semen Fedorovič Bel’skij wurde Ende Januar 1544 wohl von seinen Untertanen erschlagen (S. 106).


Es gab durch die Emigranten Übertragungen von moskovitischen Verwaltungsgepflogenheiten auf ihre litauischen Güter, die Umsiedlung von allen Einwohnern nach Dovkšov etwa durch Davyd Bel’skij – vergleichbar mit den zeitgenössischen Zwangsumsiedlungen von Livländern nach Moskau – und Kurbskijs System des kormlenie für seine prominenteren Diener. Die zeitliche Begrenzung von deren Amtsausübung scheint größere Konflikte des Fürsten mit seinen neuen Untertanen verhindert zu haben. 


Erusalimskij hat für alle seine Helden und deren Diener die angefallenen Prozesse – die sich in der Regel aus den Besitzstreitigkeiten ergaben – in der Litauischen Metrik und den Gerichtsprotokollen der zuständigen Landund Grodgerichte ermittelt. Dadurch verdichtet sich unser Bild von der Fehdegesellschaft Polen-Litauens, d. h. einer Kombination von Gewaltakten, Prozessen vor Gericht und der endlichen Friedensstiftung durch ermattete Aufgabe einer Partei oder in der Regel durch einen Vergleich nach dem Prinzip der Billigkeit unter Beiziehen von Freunden der streitenden Parteien. Rechtstaatlichkeit als die Unterwerfung des Unterlegenen unter geschriebenes Recht (Vorschriften des Statuts) oder den Spruch eines (möglicherweise parteiischen) Gerichts war kein Ideal der Adelsgesellschaft. Die Landfriedensbewegung, die im königsfernen Mähren rechtsstaatliche Verhältnisse durch die Stände geschaffen hat, hat Litauen nicht erreicht. Aus der Lektüre des gesamten durch Erusalimskij beigebrachten Materials ergibt sich jedenfalls eines: Kurbskij – trotz seiner endlosen Prozesse – war ein vergleichsweise friedlicher Zeitgenosse, und jedenfalls als Gutsbesitzer das größte Verwaltungstalent unter seinen Landsleuten. 


Die Kluft zwischen Recht und Praxis wird auch am Beispiel der Moskoviter deutlich: Weder Krzysztof Radziwiłł, der für die Ermordung Zabolockijs durch seine Diener Verantwortliche, noch dessen den tödlichen Stoß ausführender Diener wurde in die Acht gelegt. Der Magnat fiel bei Stefan Bathory nur vorübergehend in Ungnade (S. 243–248, Beilage IX: Sledstvennoe delo ob ubijstve Vladimira Zabolockogo, S. 849–854). Und nicht zuletzt vermittelt die Arbeit Einblicke in das Klientelsystem Litauens. Die meisten der prominenten Moskoviter suchten Halt im Schutze der Familie Radziwiłł (S. 760).


Wohl im Zusammenhang mit den unsicheren Zeiten am Moskauer Hof nach dem Tode Vasilijs III. – so Erusalimskij (S. 67–68) – flüchten Anfang August 1534 Semen Fedorovič Bel’skij und Ivan Vasil’evič Ljackij mit seinem Sohn und einem großen Gefolge (400 Mann) nach dem Westen. Offenbar war dies Teil einer nur mit Mühe beherrschten Fluchtbewegung aus Moscovien (S. 70– 72). Dies geschah zu einer Zeit, als die Polen und Litauer auf die Wiedergewinnung ihrer verlorenen Ostgebiete und den Sieg im laufenden Krieg hofften und gegenüber dem jungen Ivan IV. illoyale Adlige Karrierechancen bei einem neuen Herrscher witterten. Fast durchgängig hielt sich auch die polnische Hoffnung auf einen Aufstand in Moscovien, die die Flüchtlinge und andere Spione mit ihren Nachrichten über das Zarenreich immer wieder nährten. 


Zu vermuten ist, dass die geringen Aussichten auf eine große Karriere talentierter jüngster Brüder im System des mestničestvo (Rangordnung) in dem einen oder anderen Fall den Wechsel zu einem neuen Herren befördert haben. Semen Bel’skij beispielsweise verfolgte als der dritte Sohn nach Ivan und Dmitrij sein gesamtes abenteuerliches Leben lang das Ziel, das erst 1521 eingegliederte Teilfürstentum Rjazan’ als sein Erbe aus dem Moskauer Staat wieder herauszulösen, und sei es, unter der Oberhoheit des Chans der Krim (S. 66, 71).


Erusalimskij gelang es, das Verwaltungsarchiv des Semen Bel’skij im Staatsarchiv Stockholm, Skoklostersamlingen, zu ermitteln. Der kleinere Teil davon liegt in St. Petersburg. Es war nicht Kurbskij, sondern der, so Erusalimskij, 1555 während des Waffenstillstandes ausgereiste Vladimir Semenovič Zabolockij, der am Hofe den größten Einfluss, speziell unter Stefan Bathory, ausübte und das größte Vermögen anhäufte (S. 255–238).


Einige Emigranten haben literaturgeschichtlich eine Rolle gespielt. Fakten, die Ivan Ljackij mitgeteilt hatte, führten zu einer 1542 in Antwerpen herausgekommenen, verbesserten Karte Russlands des Anthonius Wied (Abb. S. 64, vgl. S. 63–66), der 1563 zwangsgeschorene Mönch Timofej Ivanovič Teterin ist aus seinem mit Sarychozin verfassten und über die Pečerskie sborniki in die russische Literatur eingegangen Schreiben bekannt (S. 266–269, Beilage II: S. 792–794). 


Umar (später Mark) Sarychozin war ein gebildeter Mann und tritt später als Schüler des Starec Artemij in Luck in Erscheinung. Kurbskij wollte ihn abwerben, was nicht gelang (S. 269, 662). Sensationell scheint die Identifikation Ivan Peresvetovs mit dem Drucker Ivan Fedorov, die Erusalimskij anhand des Eintrags in der Beschreibung des Inhalts von Kasten 143 des verlorenen Archivs Ivans IV. versucht, der „eine schwarze (=gedruckte?) Schrift des Ivaško Peresvetov und des Petr Gubastyj“ neben anderen Untersuchungsakten enthalten hat (S. 180). Petr Gubastyj wäre dann mit Petr Mstislavec, dem Schriftsetzer zu identifizieren, zumal gubastyj nicht nur „Einfaltspinsel, Grobian“, sondern auch „Schönredner“, bedeuten soll (S. 183, 181). Die „schwarze Schrift“ könnte die These stützen, denkt man daran, dass Drucken auch als „Schwarze Kunst“ bezeichnet wurde, und das moskovitische Russisch Mitte des 16. Jahrhunderts nach dem Wörterbuch der russischen Sprache des XI.-XVII. Jahrhunderts und Sreznevskij zu urteilen, noch keinen Begriff für „Drucken, Druck“ gebildet hatte.

Erusalimskij identifiziert den Studenten an der Universität Krakau Johannes Theodori de Phyetkowycze oder Johannes Theodorus Moscus, der 1532 sein Bakkalaureat erlangte (S. 179 f.), mit dem Hauptmann Ivan Moskvitin, der in der Schlacht am Fluss Seret 1538 in moldauische Gefangenschaft geraten, bei Petru Rareş in Suceava 5 Monate im Dienst gestanden hat und anschließend wohl nach Moskovien übergewechselt ist (S. 153–159). Diese Erfahrungen spiegeln sich in Pesvetovs Schriften wider, die Erusalimskij analysiert (S. 159–175). 


Der größte Teil der Arbeit befasst sich mit A. M. Kurbskij. Nicht nur gelang es Erusalimskij nach Durchsicht der litauischen Gerichtsakten, die bestehenden Lücken in der Biographie Kurbskijs zu füllen (S. 324–424), er ermittelte auch ein in polnischer Sprache verfasstes Schreiben des Fürsten mit der Bitte um eine Einladung an Albrecht von Hohenzollern (Beilage IV, S. 795–796), einen Spendenaufruf des Archimandriten des Klosters Hilandar auf dem Athos an Kurbskij (Beilage V, S. 797–798) und in der Korrespondenz der Radziwiłł mit Chodkiewicz Nachrichten über Kurbskij (Beilage VI, S. 799–801). 


Das Hauptverdienst der Arbeit besteht jedoch in den Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Kurbskijs Werken. Dabei ermittelt er völlig Neues: Eine Handschrift des Novyj Margarit von 1581 im Nationalmuseum für Kunst Bukarest (Nr. 31 der Sammlungen, S. 685 f.) und je einen Damacenusband in Kiev (Nr. 4071) und in Lemberg (F. 3, Nr. 107, S. 609). Kurbskijs theologische Arbeiten, kamen noch vor Ende des 16. Jahrhunderts nach Moscovien (Logik, frühestens 1589, S. 715), und Kurbskijs Novyj Margarit wurde in Polen-Litauen im beliebten und weit verbreiteten jüngeren Svodnyj Margarit weiterverarbeitet (S. 689, 692 ff.).


Leider haben Versehen von Besters-Dilger in ihrer Bogoslovie-Ausgabe zu wohl zweifelhaften Schlüssen geführt. Die Novyj-Margarit-Handschrift der Sammlung Undol’skij Nr. 187 enthält nicht die Neuübersetzung der Theologie des Damasceners, sondern die ältere, verkürzte Fassung der Nebesa (S. 696). Und Kurbskij hat nicht von der sehr liederlichen lateinischen Vorlage Basel 1559, sondern aus Basel 1775 übersetzt. Die ältere Ausgabe enthält unangekündigt überraschenderweise das Fragment Nr. 5 der Zählung Kurbskijs, dort S. 499–500, dafür fehlen die von Kurbskij übersetzten Fragemente 2 und 3. Die Datierung der Damascenus-Übersetzungen Kurbskijs auf die Jahre vor 1575, auf 1573 bis Anfang 1575, wird damit hinfällig (S. 703 f.). Kurbskij dürfte die Kirchenväterbände im April/Mai 1575 in Wilna gekauft oder bestellt haben (vgl. Itinerar, S. 898 f.).
Das schmälert nicht den Gesamteindruck, vorgelegt wurde ein großes Buch.

Inge Auerbach (Marburg/Lahn)