Dietrich Beyrau (Tübingen). Boris Men’šagin. Vospominanija. Pis’ma. Dokumenty [Erinnerungen. Briefe. Dokumente] // JGO 68, 2020/3–4, 660–663
Dietrich Beyrau (Tübingen). Boris Men’šagin. Vospominanija. Pis’ma. Dokumenty [Erinnerungen. Briefe. Dokumente] // JGO 68, 2020/3–4, 660–663
Mit der Edition der Memoiren des Rechtsanwalts, Bürgermeisters und langjährigen Häftlings Boris Men’šagin (1902–1984) und der Publikation seiner ergänzenden Briefe und Petitionen sowie den sorgfältigen Analysen haben die Herausgeber ein wohl einmaliges Dokument zur Geschichte der Kollaboration vorgelegt. In dem nicht immer leicht zu lesenden Sammelwerk kommen die Wechselfälle der sowjetischen Geschichte in der zugleich kompromittierten und tragischen Biographie Men’šagins zur Anschauung: Er diente in der Roten Armee bis 1927, arbeitete in den 1930er Jahren bis 1941 als Rechtsanwalt und ließ sich als Bürgermeister von Smolensk und Bobrujsk unter deutscher Besatzung einsetzen (1941–1944). Als „Geisel von Katyn’“ befand er sich seit 1945 in sowjetischer Haft, wurde aber erst 1951 als Kollaborateur auf der Basis des Ukaz vom 19. April 1943 zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er verbrachte von den 25 Jahren über 22 Jahre in Einzelhaft im Gefängnis von Vladimir. Bis 1953 wurde er als Häftling Nr. 29 ohne Namen geführt. 1970 entließ man ihn, faktisch verbannte man ihn in ein Altersheim von Kriminellen und Alkoholikern nach Knjažaja Guba und zuletzt nach Kirovsk im Gebiet Murmansk, wo er 1984 starb. (Man vergleiche dieses Schicksal mit dem sowjetischen Umgang mit den eigentlichen deutschen Tätern, die, wenn nicht im Krieg verurteilt und erschossen, spätestens 1955 entlassen wurden!)
Pavel Poljan stellt die Biographie Men’šagins ausführlich vor. In einem weiteren Beitrag geht er auf die zugänglichen Quellen ein und beklagt den weitgehend eingeschränkten Zugang zu Quellen des FSB und seiner Archivverwaltungen aus der Zeit der deutschen Besatzung und der Haft Men’šagins nach 1945. Einzelne Akten aus der Zeit der Besatzung sind nur in kompromittierender Absicht publiziert worden und heute – angeblich – nicht mehr auffindbar. Die meisten Verhörprotokolle und Reaktionen auf Men’šagins Petitionen aus der Haft werden vom FSB zurückgehalten. Das gilt auch für seine in der Haft 1952 bis 1955 niedergeschriebenen Erinnerungen für die Zeit von 1941 bis 1951. Nach 1970 hat Men’šagin noch einmal seine Erinnerungen verfasst, zuerst 1988 von Gabriel Superfin in Paris veröffentlicht, und hier abermals mit vielen Verweisen und Erläuterungen abgedruckt.
Bevor man sich in diese Erinnerungen vertiefen kann, haben die Herausgeber und Autoren ihre Analysen gestellt. Sergej Amelin spekuliert in einem kurzen Essay über die möglichen Gründe, die Men’šagin veranlassten, nicht wie die Mehrzahl der Einwohner die Stadt Smolensk mit der Roten Armee zu verlassen und sich offenbar wenig widerstrebend der deutschen Besatzungsmacht zur Verfügung zu stellen.
Ein zentraler Gegenstand der Analyse der Biografie durch Pavel Poljan ist die Affäre um Katyn’. Zusammen mit anderen einheimischen Würdenträgern nahm Men’šagin an der Besichtigung der Massengräber von Katyn’ teil. Dies dürfte der eigentliche Grund für den merkwürdigen Umgang der Sowjets mit Men’šagin gewesen sein.
Obwohl er sich schon zur Zeit des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher in sowjetischer Haft befand, hieß es amtlich, er sei nicht auffindbar. Stattdessen erpresste man B. V. Bazilevskij, den stellvertretenden Bürgermeister von Smolensk 1941 bis 1943, in Nürnberg zu Falschaussagen und fälschte zudem noch Eintragungen in dem aufgefundenen Notizblock Men’šagins. Bazilevskij, nicht weniger Kollaborateur als Men’šagin, wurde zwar nach Par. 58.1 (Vaterlandsverrat) angeklagt, aber entlassen und durfte als Professor für Astronomie in Novosibirsk in Freiheit tätig sein. Zu Katyn’ scheint Men’šagin seinen Erinnerungen nach nicht besonders intensiv befragt worden zu sein (vgl. Pavel Poljan (Hg.): Literaturnoe nasledie B. G. Men’shagina i fragment ego interv’iu 1978 goda, in: Cahiers du Monde Russe 59 (2018), 4, S. 521–551, hier S. 442–543).
Aber spätestens nach der Entlassung wurde er sich dessen bewusst, dass seine lange Haft mehr mit Katyn’ als mit seiner Funktion als Kollaborateur zu tun hatte.
Michael David-Fox diskutiert die Frage nach der Mitverantwortung Men’šagins für die Erfassung und Kontrolle der Bevölkerung, für die Verschickung von Sowjetbürgern zur Zwangsarbeit nach Deutschland, für individuelle Repressalien und schließlich für die Errichtung des Ghettos und für die Morde an der jüdischen Bevölkerung, Roma und psychisch Kranken. Seine Ausführungen sind kritischer als die Pavel Poljans, der stärker auf die Willkürjustiz im Falle Men’šagins, auf die Behinderung durch den FSB und die Archivverwaltungen, auf die Lügen und Halbwahrheiten kommunistischer Autoren fixiert ist. Im Zentrum der obigen Analysen steht die Funktion Men’šagins als Kollaborateur und als Opfer sowjetischer Willkürjustiz.
Wenn ihm Verbrechen im Sinne des ersten Absatzes des Ukaz von 1943 (Mord, Folter u. ä.) nachgewiesen worden wären, hätte ihm die Todesstrafe durch Erhängen gedroht. Als Kollaborateur hätte er nur zu 10 bis 15 Jahren verurteilt werden dürfen, von Verfahrensfehlern und anderen Ungereimtheiten des Urteils von 1951 ganz abgesehen. Die Amnestie von 1955, die für sowjetische Kollaborateure im Inund Ausland galt, wurde auf ihn ebenfalls nicht angewendet.
In seiner Funktion als Bürgermeister war er zumindest passiv in die Erfassung und Kontrolle der Bevölkerung involviert. Er war mitverantwortlich für die miserablen Lebensbedingungen der verbliebenen Bevölkerung; er entschied über Zuzug oder Abweisung der nach Ende des Waffengangs aus der Umgebung zurückkehrenden Einwohner oder der Flüchtlinge aus den von den Sowjets zurückeroberten Gebieten, über die Zuteilung von Wohnraum und viele andere Aspekte des Alltags. Im engeren juristischen Sinne war er sicher nicht verantwortlich für die Errichtung des Ghettos und die Morde an der jüdischen Bevölkerung, Roma und psychisch Kranken, aber indirekt involviert als z. T. ausführendes Organ einer Subalternverwaltung etwa bei der Errichtung des Ghettos und an der Eintreibung von Sondersteuern von Juden, so auch die Thesen von David-Fox.
Das Selbstbild, das Men’šagin in den 1970er Jahren von seinen Aktivitäten nach 1941 entwirft, ist allerdings ein etwas anderes. Es speist sich vor allem aus seinem Stolz auf seine Aktivitäten als Verteidiger in Schauprozessen vor 1941 gegen Bürger in Smolensk. Es gelang ihm, für seine Klienten bis zu A. Ja. Vyšinskij vorzudringen und wider alle Erwartungen Freisprüche und Strafmilderungen zu erwirken. (Diese Erfolge verdankten sich allerdings auch der „Großwetterlage“ nach der Ablösung N. I. Ežovs.) In der Anklage gegen ihn werden seine Aktivitäten als Verteidiger als antisowjetisches Komplott mit den Angeklagten charakterisiert.
Gegenüber den Untersuchungsbeamten bekannte sich Men’šagin ohne Umschweife als schuldig. Die Übernahme des Amtes als Bürgermeister rechtfertigte er aber mit dem sowjetischen Verhalten im Sommer 1941, was er offenbar als „Im-Stich-Lassen“, wenn nicht gar als Verrat an der Bevölkerung erlebt hat. Hinzu kamen die verschleiernden Informationen über die Lage an den Fronten und der sowjetische Artilleriebeschuss der Stadt, die ohnehin bereits stark durch das deutsche Bombardement zerstört war. In der Zeitung Novyj put’ vom 1. Mai 1943 lobte er den deutschen Einsatz gegen den „blutrünstigen Bolschewismus“ und schwadronierte von seinen „jüdisch plutokratischen Verbündeten“ (S. 736).
Seine Tätigkeit als Bürgermeister beschreibt er als vergleichsweise erfolgreich bewältigtes Organisationshandeln, als Lösung akuter Probleme in fast allen Bereichen der Kommunalwirtschaft. Dies konnte nur in Rücksprache mit der deutschen Seite geschehen, sei aber immer mit dem Versuch verbunden gewesen, die Interessen der Stadtbewohner gegen die Ansprüche der Wehrmacht auf Gebäude, Wohnraum und Nahrungsmittel zu verteidigen. Eine besondere Rolle spielt in den Erinnerungen sein Einsatz für sowjetische Kriegsgefangene im benachbarten Dulag Nr. 126.
Men’šagin nimmt für sich in Anspruch, mit den verschiedensten Argumenten und Tricks Tausende von Kriegsgefangenen dem Elend des Lagers entzogen zu haben. Außerdem betrieb er die Wiedereröffnung von Kirchen in Smolensk, berichtete aber auch von Konflikten unter den Geistlichen an deutsche Stellen. Nach Stalingrad verbesserte sich die Situation der subalternen Verwaltung und Verwalter gegenüber den deutschen Instanzen insofern, als letztere sich nun ein wenig kooperativer verhielten und durch Auszeichnungen und Reisen nach Deutschland die Funktionäre für sich einnehmen wollten.
Den repressiven Zuschnitt der deutschen Instanzen mit ihrer ständigen Androhung von Todesstrafe bei vergleichsweise harmlosen Verfehlungen, das Elend im Dulag Nr. 126, die willkürlichen Maßnahmen gegenüber dem Ghetto und schließlich die Mordaktionen verschweigt Men’šagin nicht, sie nehmen aber keinen zentralen Stellenwert in seiner Darstellung ein. Sie werden eher lakonisch wie Unwetter dargestellt, von denen er immer erst nachträglich erfahren haben will und mit denen man lernen musste umzugehen.
In seiner Selbstwahrnehmung sah sich Men’šagin wohl weder als Kollaborateur noch als Instrument deutscher Herrschaft. Die Fixierung auf die Kollaboration übersieht, dass die subalternen Akteure eigene Interessen verfolgten, Spielräume für sich oder für ihre Sache auszunutzen versuchten und dabei auch Konflikte und Rivalitäten untereinander austrugen. Dies geschah mit Rückhalt oder in Seilschaften mit den nicht sehr kompetenten deutschen Instanzen.
Diese konnten vereinzelt – selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Grade – von den einheimischen Akteuren instrumentalisiert werden. Dies gilt insbesondere für die aus dem Ausland kommenden russischen Aktivisten des NTS NP (Nacional’no-Trudovoj Sojuz Novogo Pokolenija, Nationale Arbeits-Union der Neuen Generation), mit denen Men’šagin zusammenarbeitete. In seinen Memoiren spielt der Konflikt mit einem weißrussischen Aktivisten und Nationalisten eine Rolle, der Smolensk am liebsten Weißrussland zugeschlagen hätte. Er versuchte, eigene Positionen in Smolensk mit deutscher Hilfe aufzubauen. Auch die gewalttätige einheimische Polizei führte wohl ein Eigenleben, auf das Men’šagin wenig Einfluss hatte, so jedenfalls seine nachträgliche – vielleicht auch entlastende – Darstellung.
Der dritte Teil seiner Memoiren umfasst die Zeit seiner Haft, seine Petitionen auf Überprüfung seiner Verurteilung sowie die wenigen Jahre des Zusammenlebens mit anderen Häftlingen, u. a. einem Mitarbeiter L. P. Berijas. Die Briefe an seine Freundinnen und Freunde (nach 1970) lassen sich den Memoiren hinzufügen. Sie liefern ein anschauliches Portrait der Altersheime in Knjažaja Guba und Kirovsk. Als Vergleich fällt einem am ehesten Maksim Gor’kijs Na dne ein: Im Gegensatz zu Gor’kij eine illusionslose Sicht auf die trübe Welt von Kriminellen, Alkoholikern, verantwortungslosen Angestellten und Krankenschwestern (sanitarki), von Gewalt und Korruption, aber immerhin ohne Hunger. Von dieser Welt konnte sich Men’šagin nur durch Konzentration auf Lektüre absondern, aber auch dadurch, dass er sich zum Vertreter der Insassen wählen ließ. Er versuchte, schlimmste Missstände zu beheben.
Dies geschah wohl in der Hauptsache durch Beschwerden, die den Hass mancher Heimbewohner und Angestellten auf ihn zogen. Dreimal wurde er körperlich angegriffen. Überleben konnte Men’šagin diese Verhältnisse nur, weil er im Sommer bei Freunden und Bekannten Unterkunft und moralische Unterstützung fand. Neben ehemaligen Gefängniskameraden waren dies vor allem Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Umfeld A. Solženicyns und der Chronik der laufenden Ereignisse, die 1970 über Men’šagins Entlassung berichtet hatte. Diese Kreise dürften insbesondere Men’šagins Leiden im Gefängnis – als Beleg für sowjetische (anhaltende) Willkürjustiz und Geschichtsklitterung – zur Unterstützung bewegt haben.
Ein weiteres Element hat Men’šagins Verhalten geprägt: Er war spätestens seit seiner Haftzeit gläubiger Christ und nahm sein Los nach 1945 offenbar als Prüfung an, einschließlich eines Schuldgeständnisses, das er in Petitionen aus dem Gefängnis immer wiederholte, ohne es weiter zu erläutern. Auch seine Äußerungen zu den Heimbewohnern sind bemerkenswert gelassen, frei von Hass, ähnlich wie seine lakonischen Ausführungen zu den Untersuchungsrichtern, Gefängnisaufsehern und den NS-Gräueln.
Die Publikation der Memoiren Men’šagins und der ergänzenden Schriften verändern sicherlich nicht die Sicht auf die Kollaboration in der Sowjetunion und schon gar nicht auf die deutsche Besatzungspolitik, sie liefert aber erhellende Einblicke in die bisher weitgehend unbekannte zivile Subalternverwaltung und den Erfahrungshorizont eines ihrer wichtigen Akteure.
Dietrich Beyrau (Tübingen)